29.07.2024 | Forschung, Glaukom

Primäres Offenwinkelglaukom: Bewährtes und Neues

Laut European Glaucoma Society (EGS) Guidelines ist das Ziel der Versorgung von Patient:innen mit Glaukom die Lebensqualität und das Wohlbefinden der Betroffenen innerhalb eines tragfähigen Gesundheitssystems zu fördern. (1) Die wichtigsten Risikofaktoren für eine Erblindung sind der Schweregrad des Glaukoms bei Diagnosestellung, eine beidseitige Manifestation und ein junges Patient:innenalter. Die Behandlung muss sich daher immer nach den individuellen Risikofaktoren und Bedürfnissen der Betroffenen richten. (1) Zudem müssen der Allgemeinzustand, die Therapieadhärenz und die Präferenzen der Patient:innen bei allen Therapieentscheidungen beachtet werden.

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Medikamentöse Therapien

Seit der Einführung von Pilocarpin 1875 sind verschiedene antiglaukomatöse Medikamente verfügbar. (1) Am häufigsten werden aktuell Prostaglandinanaloga verordnet, die den Kammerwasserabfluss über den uveoskleralen Abfluss steigern. Betablocker gelten aufgrund ihrer systemischen Nebenwirkungen als Second-Line-Therapie. Carboanhydrasehemmer beziehungsweise Alpha-Agonisten werden eher als Third- beziehungsweise Fourth-Line-Behandlung eingesetzt. Kürzlich wurden zwei neue Substanzklassen vorgestellt: Rho-Kinase-Inhibitoren und Latanoprostenbunod.

Rho-Kinse-Inhibitoren hemmen direkt am Trabekelmaschenwerk und am Schlemm’schen Kanal die humanen Rho-Kinasen 1 und 2 (ROCK1 und 2). Dadurch kommt es zur Widerstandsverringerung des konventionellen Kammerwasserabflusssystems und zusätzlich zur Senkung des episkleralen Venendrucks. (2) Netarsudil wirkt zusätzlich auf den Noradrenalin-Transporter (NET). Dieser wird ebenso durch den Wirkstoff blockiert, was die Kammerwasserproduktion reduziert. (3) Hinsichtlich der Wirksamkeit zeigten randomisiert-kontrollierte Studien, dass Netarsudil/Latanoprost beziehungsweise Timolol 0,5 % nur in der Subgruppe von Patient:innen mit einem IOD von unter 27 beziehungsweise 26 mmHg nicht unterlegen war. Dies lässt den Verdacht zu, dass Netarsudil insbesondere bei Patient:innen mit einem niedrigeren Ausgangsdruck wirksam ist. (4,5) Eine Behandlung mit Rho-Kinase-Inhibitoren führt in fast zwei Drittel der Fälle zu einer konjunktivalen Hyperämie, in 15 % zu einer Cornea verticillata und in 11 % zu petechialen Bindehautblutungen. (2) Positiv hervorzuheben ist andererseits, dass es unter einer lokalen Therapie mit Rho-Kinase-Hemmern kaum zu systemischen Nebenwirkungen kommt, da diese auch im menschlichen Plasma zirkulieren. (6) Rho-Kinase-Hemmer (Netarsudil 0,02 %, Ripasudil 0,4 %) wurden von der US Food and Drug Administration (FDA) und der ­European Medicines Agency (EMA) bereits zugelassen, wobei in Österreich nur eine „fixed combination“ Netarsudil-Latanoprost (FCNL) verfügbar ist (Roclanda®, Santen).

Latanoprostenbunod auf der anderen Seite ist ein neuartiges Prostaglandinderivat, welches sowohl den konventionellen als auch den uveoskleralen Abfluss beeinflusst. Es wurde im Jahr 2017 in den USA unter dem Namen Vyzulta®, zugelassen. In Europa ist es aktuell noch nicht verfügbar. Nach dem Eintropfen kommt es zu einer Hydrolyse durch die Hornhaut-Esterase, wodurch ein Prostaglandin F-Rezeptor-Agonist (Latanoprostsäure) und eine Stickoxid-spendende Einheit (Butandiolmononitrat) entsteht. (7) Latanoprostsäure führt zu einer Steigerung des uveoskleralen Abflusses. (8) Butandiolmononitrat ist in der Lage Stickstoffmonoxid (NO) abzuspalten, welches eine Relaxation des Trabekelmaschenwerkes und des Ziliarmuskels verursacht – hierdurch wird der konventionelle Kammerwasserabfluss gesteigert. (9,10) Es konnte gezeigt werden, dass Latanoprostenbunod, abhängig von der Dosierung, den IOD signifikant stärker senkt als Latanoprost oder Timolol allein. (7,10,11) Zu den häufigsten Nebenwirkungen zählen eine Bindehauthyperämie (17,7 %), vermehrtes Wimpernwachstum (16,2 %), Augenirritationen (11,5 %) und Schmerzen (10 %), sowie selten systemische, nicht-okuläre Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Fatigue oder Haarausfall. (6)

Mangelnde Therapie-Adhärenz ist generell ein relevantes Problem in der Glaukombehandlung. Es gibt daher einige neuartige Ansätze hinsichtlich Drug Delivery Systemen. Durysta™ (Allergan) ist ein intrakamerales Bimatoprost-Implantat, das seit 2020 in den USA zugelassen ist. Das Implantat gibt den Wirkstoff kontinuierlich über 3–4 Monate ab. (12,13) Interessanterweise hält der drucksenkende Effekt aber deutlich länger an (bei 28 % der Patient:innen für mindestens 2 Jahre). (14) Das kann dadurch erklärt werden, dass es durch die Implantation in die Vorderkammer zu deutlich höheren Wirkstoffkonzentrationen und folglich zu einer stärkeren Aktivierung von Matrix-Metalloproteinasen kommt. Dieses Remodelling des trabekulären Maschenwerks senkt den IOD langfristig.

Erste klinische Untersuchungen haben ergeben, dass Durysta gegenüber Timolol 0,5 % nicht unterlegen ist. Als Nebenwirkung konnte eine Reduktion der kornealen Endothelzelldichte beobachtet werden. (12)

Die Lasertrabekuloplastik

Dieser Überbegriff umfasst die Argon Laser Trabekuloplastik (ALT) und die Selektive Laser Trabekuloplastik (SLT), die einen Q-Switched Nd: YAG-Laser nutzt. Die ALT ist das ältere Verfahren, welches bereits 1979 für die Behandlung des Primären Offenwinkelglaukoms vorgestellt wurde. (15) Mittels Elektronenmikroskopie konnte jedoch gezeigt werden, dass die ALT zu Gewebeschäden im Trabekelmaschenwerk führt. (16) 1995 wurde von Latina et al. die SLT vorgestellt und 2002 durch die FDA zugelassen. Durch die kürzere Pulsdauer wird die Hitzeentwicklung außerhalb der pigmentierten Trabekelmaschenwerkszellen reduziert und es entsteht weniger Kollateralschaden im Vergleich zur ALT. (17,18) Die Wirkung der SLT beruht stattdessen mehr auf biologischen Faktoren wie Zytokinfreisetzung, Induktion von Matrix-Metalloproteinasen und Trabekelmaschenwerk-Remodelling. (19) Dabei sind die ALT und die SLT in ihrer Effizienz vergleichbar. Nachdem die SLT jedoch das schonendere Verfahren mit geringeren Nebenwirkungen ist, wird heutzutage bevorzugt die SLT eingesetzt. (20)

Die LiGHT-Studie konnte zeigen, dass Patient:innen mit neu diagnostizierter okulärer Hypertension oder primärem Offenwinkelglaukom, die primär mit einer SLT behandelt wurden, auch 3 Jahre nach der Behandlung in bis zu 74 % der Fälle keine zusätzliche medikamentöse Therapie benötigten, um den definierten Zieldruck zu erreichen. In der Lasergruppe kam es seltener zu einer Krankheitsprogression und im Vergleich zur Tropfengruppe, bei der bei elf Betroffenen eine Trabekulektomie durchgeführt werden musste, war dies in der Lasergruppe nicht notwendig. (21) Dank der Ergebnisse der LiGHT-Studie wird eine primäre SLT mittlerweile in einigen Ländern empfohlen. In den EGS-Guidelines ist sie als Second-Line-Therapie angeführt. (1)

2017 wurden erstmalig vielversprechende Ergebnisse zur Direkten Selektiven Lasertrabekuloplastik (DSLT) veröffentlicht. (22) 2021 wurde ein neues Gerät vorgestellt, der External Automatic Glaucoma Laser (Eagle™, Belkin), der eine direkte, translimbale SLT über 360° in circa zwei Sekunden ermöglicht. Der Wirkmechanismus entspricht dem der konventionellen SLT, mit dem Vorteil, dass eine kontaktlose Behandlung ermöglicht wird und sich dadurch das Risiko von kornealen Schäden reduziert. (23) Eine randomisiert-kontrollierte Studie konnte kürzlich zeigen, dass die DSLT in der Wirksamkeit mit der konventionellen SLT vergleichbar ist. (24)

Chirurgische Behandlungen

Bei Patient:innen mit fortgeschrittenem Glaukom zum Zeitpunkt der Erstdiagnose kann eine primär chirurgische Versorgung von Vorteil sein. (25) Insgesamt haben sich die chirurgischen Möglichkeiten zur Augendrucksenkung in den letzten Jahren stark erhöht.

1960 wurde die Trabekulektomie erstmalig beschrieben und sie ist in ihrer heutigen, modifizierten Form immer noch der Goldstandard, an dem sich neue Verfahren messen müssen. (26)

Rezente Entwicklungen gab es kürzlich, insbesondere im Bereich der minimalinvasiven Glaukomchirurgie (MIGS). Dabei handelt es sich um Eingriffe, die über eine Clear Cornea-Inzision ab interno über die Vorderkammer durchgeführt werden. Auch wenn mit MIGS keine vergleichbare Drucksenkung wie bei der Trabekulektomie erreicht werden kann, haben diese Eingriffe dank ihres günstigen Sicherheitsprofils und ihrer größeren Akzeptanz bei Betroffenen mittlerweile einen festen Platz im Stufenschema der Glaukomchirurgie. (27) Erst kürzlich wurde eine Meta-Analyse veröffentlicht, die zeigte, dass manche MIGS eine bessere Stabilisierung bei Glaukom bewirken als eine Stand-alone-Kataraktoperation. (28)

Im Gegensatz dazu versteht man unter minimalinversiver Bleb-Bildender-Chirurgie (MIBS) Eingriffe, bei denen Kammerwasser wie bei einer filtrierender Glaukomoperation nach außen in einen subkonjunktivalen Raum geleitet wird. Dies erfolgt jedoch mit weniger Gewebetrauma als bei einer traditionellen Trabekulektomie. Der Preserflo Microshunt™ erzielt dabei IOD-Werte, die teilweise sogar mit denen nach Trabekulektomie vergleichbar sind. (29-32) Von der Firma Allergan wurde als Weiterentwicklung des XEN 45™ Implantats kürzlich das XEN 63™ Implantat vorgestellt, das ein entsprechend größeres Lumen aufweist. Studien zu Wirksamkeit und Nebenwirkungen sind noch ausständig.

Die Zukunft

Ein Ziel in der Glaukomforschung ist es, Therapieansätze abseits der Augendruckregulation zu finden, um die Optikusneuropathie direkt behandeln zu können. Orales Memantin und Nikotinamid (Vitamin B3) könnten dabei eine neuroprotektive Wirkung haben. (33) Ein anderer innovativer Ansatz ist die Regeneration von geschädigtem Trabekelmaschenwerk mittels Stammzellen. (34) Zudem könnte die Transplantation von mesenchymalen Stammzellen einen neuroprotektiven Effekt haben. (35) Erste Studien untersuchen die Sicherheit und Effektivität von intravitreal applizierten neurotrophen Faktoren bei Betroffenen (36).◗

Priv.-Doz.in Dr.in Anna Sophie Reisinger
Kepler Universitätsklinikum, Linz
www.kepleruniklinikum.at

Foto: Privat

Literatur:
1 European Glaucoma Society Terminology and Guidelines for Glaucoma, 5th Edition. Br J Ophthalmol. 2021 Jun;105(Suppl 1):1-169.
2 Clement Freiberg J et al., Cochrane Database Syst Rev. 2022 Jun 10;6(6):CD013817.
3 Al-Humimat G et al., J Exp Pharmacol. 2021 Feb 25;13:197-212.
4 Bacharach J et al., Ophthalmology. 2015 Feb;122(2):302-7.
5 Serle JB et al., Am J Ophthalmol. 2018 Feb;186:116-127.
6 Mehran NA et al., Eye (Lond). 2020 Jan;34(1):72-88.
7 Fingeret M et al., Clin Exp Optom. 2019 Nov;102(6):541-550.
8 Nilsson SF et al., Exp Eye Res. 1989 May;48(5):707-16.
9 Wiederholt M et al., Invest Ophthalmol Vis Sci. 1994 Apr;35(5):2515-20.
10 Cavet ME et al., Invest Ophthalmol Vis Sci. 2014 Aug 14;55(8):5005-15.
11 Medeiros FA et al., Am J Ophthalmol. 2016 Aug;168:250-259.
12 Medeiros FA et al., Ophthalmology. 2020 Dec;127(12):1627-1641.
13 Bacharach J et al., Drugs. 2021 Nov;81(17):2017-2033.
14 Craven ER et al., Drugs. 2020 Feb;80(2):167-179.
15 Wise JB et al., Ophthalmol. 1979 Feb;97(2):319-22.
16 Rodrigues MM et al., Ophthalmology. 1982 Mar;89(3):198-210.
17 Garg A et al., Eye (Lond). 2018 May;32(5):863-876.
18 Kramer TR et al., Ophthalmology. 2001 Apr;108(4):773-9.
19 Kagan DB et al., Clin Exp Ophthalmol. 2014 Sep-Oct;42(7):675-81.
20 Wong MO et al., Surv Ophthalmol. 2015 Jan-Feb;60(1):36-50.
21 Gazzard G et al., Health Technol Assess. 2019 Jun;23(31):1-102.
22 Geffen N et al., J Glaucoma. 2017 Mar;26(3):201-207.
23 Congdon N et al., Br J Ophthalmol. 2023 Jan;107(1):62-65.
24 Belkin M, Invest. Ophthalmol. Vis. Sci. 2022;63(7):167 – A0360.
25 King AJ et al., BMJ. 2021 May 12;373:n1014.
26 Razeghinejad MR et al., Surv Ophthalmol. 2012 Jan-Feb;57(1):1-25.
27 Nichani P et al., Surv Ophthalmol. 2021 Sep-Oct;66(5):714-742.
28 Bicket AK et al., JAMA Ophthalmol. 2021 Sep 1;139(9):983-989.
29 Gubser PA et al., Eye Vis (Lond). 2023 Dec 21;10(1):50.
30 Pillunat KR et al., Acta Ophthalmol. 2022 May;100(3):e779-e790.
31 Fili S et al., Cureus. 2022 Aug 23;14(8):e28288.
32 Jamke M et al., Graefes Arch Clin Exp Ophthalmol. 2023 Oct;261(10):2901-2915.
33 Jayaram H et al., Lancet. 2023 Nov 11;402(10414):1788-1801.
34 Coulon SJ et al., Prog Retin Eye Res. 2022 Sep;90:101063.
35 Zhang KY et al., Cells. 2021 Jun 8;10(6):1426.
36 Goldberg JL et al., Ophthalmol Sci. 2023 Mar 11;3(3):100298.

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