13.02.2024 | Optik

Warum auch Erwachsene in die Orthoptik kommen

Die Orthoptik als Spezialgebiet der Augenheilkunde hat sich von ihrem ursprünglichen Leistungsspektrum und heute noch Kernkompetenz – der Behandlung von Sehschwächen und Schielen bei Kindern – weiterentwickelt. Der Begriff „Sehschule“ ist überholt und die Orthoptik umfasst heute auch die Vorsorge, Erkennung und Behandlung von Seh- und Augenfunktionsstörungen von Menschen aller Altersgruppen.

Neben Kindern mit Sehschwächen und Schielen werden in der Orth­optik zunehmend Erwachsene mit Schwindel, Kopfschmerzen unklarer Ursache, Doppelbildern, Verschwommensehen, Problemen beim Fokuswechsel Ferne – Nähe, Danebengreifen oder Anstoßen an Hindernissen betreut. Die Orthoptik ist auf die Diagnostik und Therapie derartiger Störungen spezialisiert.

VERSTECKTES SCHIELEN ODER AKUTE ERKRANKUNG

Im Gegensatz zu anderen therapeutischen Berufen werden Patient:innen in der Orth­optik überwiegend mit Beschwerdebildern anstelle von Diagnosen zugewiesen, weshalb zu Beginn jeder visuellen Therapie die orthoptische Diagnostik steht. Die Fähigkeit, Störungen des visuellen Systems zu erkennen und richtig einzuordnen, erfordert ein fundiertes fachliches Wissen, zumal Betroffene ihre Sehstörung nicht differenziert beschreiben können, sondern lediglich angeben „schlecht zu sehen“. Auch bei Gang­unsicherheit, Schwindel oder häufigem ­Danebengreifen sollte an eine orthoptische Begutachtung gedacht werden, da Gesichtsfelddefekte oder Augenbewegungsstörungen diese Symptome verursachen oder verstärken können. Fehlfunktionen des Sehens und der Augenmuskel können angeboren, in der Kindheit beschwerdefrei kompensiert und erst im Erwachsenenalter „sichtbar“ werden. Aber auch neurologische und internistische Erkrankungen können das Sehen oder die Augenmuskelfunktionen beeinflussen und Sehstörungen hervorrufen, die das Leben der Betroffenen erheblich beeinträchtigen. Dazu gehören unter anderem:

  • Schlaganfälle, Tumore, Hirn­verletzungen, Durchblutungsstörungen
  • Multiple Sklerose, Parkinson, Schilddrüsenerkrankungen

Vor allem in der Neurologie sind Augenbewegungsstörungen häufig auftretende Symptome mit erheblicher topodiagnostischer Bedeutung. In der Neuroorthoptik, der Schnittstelle zwischen Orthoptik und Neurologie, können Orthoptist:innen mit Hilfe klinischer Tests nicht nur angeborene von erworbenen Augenbewegungsstörungen und somit chronische von akuten Erkrankungen differenzieren, sondern die topo­diagnostische Zuordnung von Augenbewegungsstörungen liefert vor allem bei Hirnstammläsionen wertvolle Informationen für weiterführende bildgebende Maßnahmen.

SEHBESCHWERDEN AUFGRUND VON BELASTUNGEN

Immer mehr Patient:innen kommen in die Orthoptik, weil sie belastungsbedingte Sehbeschwerden haben, zum Beispiel bei Bildschirmarbeit, beim Lesen oder in der Dämmerung. Dies kann eine Vielzahl von Symptomen verursachen, von Verschwommensehen, Doppelbildern bis zu Augenzittern und eingeschränktem Sehvermögen. Diese Beschwerdebilder werden in der Orthoptik mit speziellen Sehhilfen (z. B. Prismenbrillen, Gleitsichtbrillen) und/oder orthoptischer Visualtherapie behandelt. Ziel der orthoptischen Visualtherapie ist es, durch gezielte und individuell zusammengestellte Übungen die Qualität des beidäugigen Sehens zu festigen und die Okulomotorik (die verschiedenen Arten der Augenbewegungen) zu trainieren.

SEHSTÖRUNGEN BEI NEUROLOGISCHEN ERKRANKUNGEN

Wie bereits erwähnt gehen neurologische Erkrankungen häufig mit Sehstörungen einher. Bei Schlaganfällen kommt es bei rund einem Drittel der Patient:innen zu Beeinträchtigungen des Sehens, wie z. B. Doppelbildern, herabgesetzter Sehleistung, Gesichtsfelddefekten oder visuellen Wahrnehmungsstörungen. Dies überrascht nicht, ist der Sehvorgang doch ein hochkomplexer. Weite Teile des Gehirns sind mit der visuellen Verarbeitung und Koordination des Augenpaares beschäftigt. In unserer visuellen Welt, in der wir 80 % der Informationen über das Sehen aufnehmen, führen Sehstörungen zu erheblichen Einschränkungen der Betroffenen im Alltag. Hinzu kommt, dass bei zerebral bedingten Sehstörungen das Sehvermögen je nach Aufmerksamkeitslevel und Umweltbedingungen schwankt. Das Organ Auge kann dabei völlig intakt sein, was Patient:innen verunsichert und das Krankheitsverständnis erschwert. Zerebrale Sehstörungen sind von außen nicht sichtbar und sie gehen oft mit motorischen, kognitiven sowie sprachlichen Symptomen einher. Ohne das Wissen um zerebrale Sehstörungen werden Ungeschicklichkeiten im Alltag primär diesen sichtbaren Einschränkungen zugeschrieben, dabei erschweren unbehandelte Sehstörungen andere gängige Therapien wie Ergo- oder Physiotherapie erheblich, beziehungsweise machen sie bei starker Ausprägung sogar unmöglich.

WENN ERWACHSENE WIEDER SEHEN LERNEN MÜSSEN

Als Folge von Schlaganfällen oder Tumoren kann es zu Ausfällen des Gesichtsfeldes kommen. Dies kann zwar nicht rückgängig gemacht werden, aber durch ein Kompensationstraining sind die verloren gegangenen Fähigkeiten trainierbar. Dabei wird versucht, durch gezieltes Training der Augenbewegung (exploratives Sakkadentraining) den Ausfall des Gesichtsfeldes zu kompensieren. Ein visuelles Training sollte daher frühzeitig begonnen werden. Es zeigt aber auch nach zeitlicher Verzögerung noch Wirkung.

Ziel der orthoptischen Maßnahmen ist es, Seh- und Wahrnehmungsdefizite im Alltag zu reduzieren und Kompensationsstrategien zum Umgang mit Sehbeeinträchtigungen zu entwickeln. Durch die hohe Spezialisierung ermöglichen Orthoptist:innen die Berücksichtigung der visuellen Komponente in der interdisziplinären Behandlung und leisten damit einen wertvollen Beitrag zur Verbesserung der Patient:innenversorgung.

Orthoptist:in

Orthoptist:innen haben in enger Zusammenarbeit mit Augenärzt:innen unsere Augen im Blick. Sie sind Expert:innen in der Erkennung und Behandlung von Sehstörungen, Schielen, Schwachsichtigkeit sowie Augenmuskellähmungen. Aber auch Patient:innen mit reduziertem Sehvermögen, Augenzittern oder augenbedingter Kopffehlhaltungen, Kopfschmerzen und Lesestörungen werden in der Orthoptik betreut. Nicht immer liegt es nur an den Augen. Auch Hirnschädigungen oder neurologische und internistische Erkrankungen beeinträchtigen das Sehvermögen und erfordern Know-how in der interdisziplinären Patient:innenbetreuung. Orthoptist:innen haben Wissen über das visuelle System, sowie das Sinnesorgan Auge und kennen die Zusammenhänge von Sehstörungen als Auswirkung anderer Erkrankungen.

Ausbildung Orthoptist:in

Der Beruf der Orthoptist:in ist in Österreich ein gesetzlich geregelter Gesundheitsberuf und gehört zu den MTD-Berufen. Die Ausbildung erfolgt an zwei Fachhochschulen (Wien und Salzburg). Das Studium dauert sechs Semester und schließt mit dem ­Bachelor of Science in Health Studies ab.

Tabelle 1: Die ORTHOPTISCHE BEHANDLUNG bei ERWACHSENEN beinhaltet
Beseitigung von Doppelbildern
Optimierung von Sehhilfen bzw. Beratung zu vergrößernden Sehhilfen (z. B. Lupen)
Training des beidäugigen Sehens und der Okulomotorik (orthoptisches Visualtraining)
Training der visuellen Alltagskompetenzen
Übungen zur Lesefähigkeit
Verbesserung der Raumorientierung
Motivation und Hilfe zur Akzeptanz
Angehörigenberatung
Kontaktaufnahme mit weiterführenden Stellen

orthoptik austria – die berufliche Interessensvertretung

orthoptik austria, der Berufsverband der Orthoptist:innen Österreichs, ist die freiwillige berufliche Interessensvertretung der Orthoptist:innen in Österreich und als ­gemeinnütziger Verein mit Sitz in Wien ­organisiert. Der Berufsverband wurde 1975 gegründet und vertritt aktuell rund 320 ­Berufsangehörige, das sind über 80 % aller berufstätigen Orthoptist:innen.

Die Orthoptik als Spezialgebiet der Augenheilkunde hat sich von ihrem ursprünglichen Leistungsspektrum und heute noch Kernkompetenz – der Behandlung von Sehschwächen und Schielen bei Kindern – weiterentwickelt. Der Begriff „Sehschule“ ist überholt und die Orthoptik umfasst heute auch die Vorsorge, Erkennung und Behandlung von Seh- und Augenfunktionsstörungen von Menschen aller Altersgruppen.

Die abschließende Zusammenfassung zeigt Beschwerdebilder bei Erwachsenen auf, die in der Orthoptik betreut werden:

Tabelle 2: Folgende BESCHWERDEBILDERN werden in der ORTHOPTIK betreut
Verschwommensehen Leseschwierigkeiten (u.a. Probleme beim Zeilensprung oder Finden des Zeilenanfangs)
Augenkneifen reduzierte Lesedauer, Wortauslassungen
Doppelbilder Probleme bei der räumlichen Orientierung
Danebengreifen (Past Pointing) Schwierigkeiten beim Treppensteigen
Anstoßen und Übersehen von Hindernissen Stand- und Gangunsicherheit, Schwindel, Fallneigung
Probleme beim Einschätzen von Distanzen Scheinbewegungen (Oszillopsien)
herabgesetzte/veränderte Farbwahrnehmung Probleme beim Scharfstellen in der Nähe
Blendung, Lichthunger Kopf- und Augenschmerzen
verkürzte visuelle Belastbarkeit,
rasches Ermüden bei visueller Tätigkeit
Augentränen

Mag.a (FH) Romana Weidinger
Präsidentin von orthoptik austria Vorstandsmitglied von MTD-Austria

Foto: privat

Quellen:
Thömke F. (2016): Augenbewegungsstörungen. Bad Honeff
Reckert I. (2023): Sehen findet im Gehirn statt. Stuttgart
Resch R. E. (2020): Orthoptik Zahlen-Daten-Fakten. Eine umfassende Analyse von Trends, die die Augenheilkunde und im Speziellen die Orthoptik betreffen. FH Salzburg

Mehr zum Thema:

„Shared-Decision-Making“ in der Behandlung der progressiven Myopie

Ausgewogene Ernährung stärkt das Sehvermögen

Sommerurlaub: Schutz der Augen vor UV-Licht ist wichtig

CVI: Die Orthoptistin im interdisziplinären Team

Orthoptik mit Weitblick 2023